Ehrlichs Rechtssoziologie wird gemeinhin mit einem Konzept des "lebendigen Rechts" in Verbindung gebracht, das sich wiederum auf die Metapher des "lebendigen Wassers" im Gegensatz zu stehendem Wasser bezieht: "Das Wasser, das man in den Teich gibt, ist nicht mehr ein lebendiges Gewässer, sondern ein stehendes Becken, und man kann nur wenig Wasser in den Teich geben. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass das lebende Recht bereits über jedes dieser Gesetzbücher hinausgegangen ist und sich von ihnen entfernt hat, als diese verkündet wurden, und dass es sich täglich weiter von ihnen entfernt, kann man sich nur vorstellen, wie enorm groß das noch immer ungepflügte und nicht bearbeitbare Arbeitsfeld ist, das dem modernen Rechtsforscher aufgezeigt wird.". Im Falle des Arbeitsrechts deutet dies auf eine Art permanenten Wettlauf zwischen einem Korpus, der in Frankreich seit mehr als einem Jahrhundert die Form des "Arbeitsgesetzbuches" angenommen hat, und dem Fluss des sozialen Lebens hin, der der Dynamik sowohl technischer als auch rechtlicher Innovationen unterworfen ist. So kann das Arbeitsrecht als "lebendig" bezeichnet werden, da es sich mit den aufeinander folgenden "industriellen Revolutionen" von Kohle und Dampf bis zum Internet immer wieder neu erfindet. In dieser Hinsicht ist er einer intensiven gesetzgeberischen Aktivität unterworfen, die sich in Frankreich in einer Reihe von Reformen in einem atemberaubenden Tempo während der 2010er Jahre manifestiert. Aber im Gegensatz zu dieser heraklitischen Vision eines lebendigen Rechts, ist es nicht vielmehr der Widerstand der Arbeitnehmer gegen diese Gesetzesflut, der die vitale Kraft des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherheit zeigt? Wenn die Rechtssoziologie nach Ehrlich ein "lebendiges Recht" aufdecken will, so geschieht dies weniger durch die Identifizierung eines systematischen Rückstands des kodifizierten Rechts gegenüber den im sozialen Leben verwendeten Normen, sondern durch einen aufmerksamen Blick auf die örtlichen Variationen dieses lebendigen Rechts in den Praktiken der gewöhnlichen Akteure. Die Herausforderung besteht hier darin, von einer Kenntnis des Rechts, die sich auf die Verbindung zwischen Gesetzesvorschlag und Gerichtsentscheidung konzentriert, wegzukommen, um die Normen und Referenzinstitutionen zu betrachten, die für die täglichen Aktivitäten relevant sind. Weit davon entfernt, sich auf eine von Le Play inspirierte monographische Praxis zu beschränken, zielt die Ehrlichianische Rechtssoziologie durch die Suche nach dem lebendigen Recht auf die Identifizierung sozialer Tatsachen ab, was zumindest implizit auf eine Durkheimsche Dimension des Ansatzes hindeutet. Darüber hinaus bestätigt der Widerstand der stabilen Arbeitnehmerschaft gegen die Flut von Reformen seit mehr als einem Jahrzehnt die Objektivität und Bedeutung dieser sozialen Tatsache, die mit dem Stellenwert übereinstimmt, den Durkheim und Ehrlich der Arbeitsdynamik in ihrer Zeit einräumen. Indem sie sich auf die Zukunft konzentriert, die der neoliberale Gesetzgeber der Arbeit zuweist, d.h. auf den Mikrounternehmer, die Mikroaufgabe, die Plattform und ihre Algorithmen, neigt die juristische Doktrin des Arbeitsrechts manchmal dazu, das lebendige Recht der Arbeitnehmerschaft zu verlassen, das durch die Beständigkeit der stabilen Beschäftigung und die Stärke der Forderungen nach Löhnen und Arbeitsbedingungen - insbesondere seit dem Schock der Pandemie - bezeugt wird. Diese Situation rechtfertigt den Aufruf zu einer Rechtssoziologie, die auf dem Gebiet der Arbeit die Praktiken und Institutionen betrachtet, die diese wesentliche soziale Aktivität - die Arbeit - ausmachen.